gbs Bodensee
Published on gbs Bodensee (https://gbs-bodensee.de)

Startseite > Wer ist hier blind?

Wer ist hier blind? [1]

Die "Rituelle Gewalt / Mind Control"-Verschwörungstheorie. Filmkritik von Alexander Wolber.

06.11.2025
Filmszene: nachgestelltes Verhör

Der Dokumentarfilm von Liz Wieskerstrauch mit dem Titel "Blinder Fleck" läuft derzeit in deutschen Kinos und beschäftigt sich mit "ritueller Gewalt" an Kindern. Während der Film emotional mitreißt und sich gut in Szene setzen kann, krankt er an anderen Stellen. Er entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Vehikel der "Rituellen Gewalt / Mind Control"-Verschwörungstheorie.

Seit April 2025 wurde der Dokumentarfilm "Blinder Fleck" [2] von Liz Wieskerstrauch 61 mal in deutschsprachigen Kinos vorgeführt. Zehn weitere Male sind bereits in Planung. Inhaltlich wolle der von der Deutschen Film- und Medienbewertung [3] (FBW) mit dem Prädikat "besonders wertvoll" ausgezeichnete Film die "organisierte, ritualisierte Gewalt an Kindern" sichtbar machen. Ich selbst habe den Film am Montag, den 27. Oktober im Zebra Kino [4] in Konstanz gesehen und möchte meine Gedanken dazu teilen.

Der Plot

Die 81-minütige Doku steigt mit der Vorstellung einer Mutter und ihrer Tochter (Hauptprotagonisten) ins Thema ein. Die Tochter, wie im Verlauf des Films deutlich wird, sei von ihrem Vater und einigen fremden Männern schwer sexuell und rituell missbraucht worden. Ereignet habe sich das in einem Waldstück, in dem auch andere Kinder anwesend gewesen seien, die ein ähnliches Schicksal erlitten hätten. Die Kinder seien zudem gefoltert und dazu animiert worden, sich gegenseitig umzubringen. In den ersten etwa 60 Minuten werden weitere Opfer von rituellem Missbrauch vorgestellt, die ausführlich ihre Geschichte darlegen dürfen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle im frühen Kindesalter von geheimen Zirkeln oder satanischen Sekten entführt und in rituellen Zeremonien mehrfach vergewaltigt und gefoltert worden sein sollen. Man habe zudem versucht, gezielt ihre Persönlichkeit aufzuspalten, sie zu "konditionieren" oder zu "trainieren", sodass die unterschiedlichen Persönlichkeiten später einmal für die Täter verschiedene "Aufgaben" erfüllen könnten. Bei einigen sei das von Erfolg gekrönt gewesen, da sie nun unter einer "dissoziativen Identitätsstörung" (DIS) litten und mehrere "eigenständige" Persönlichkeiten hätten.

Mindestens genauso belastend sei, dass andere Menschen ihnen das oft nicht glaubten. Die sehr ausführlichen Schilderungen der Betroffenen sind stimmungsvoll eingefangen und stellenweise mit dramatischer Musik unterlegt. Im Kontrast dazu kommen zwischendurch unterschiedliche Experten zu Wort, die das Gesagte der Betroffenen fachlich zu untermauern versuchen. Im letzten Viertel der Doku äußern sich zwei eher skeptisch eingestellte Menschen (eine Juristin und ein Fallanalytiker), die von den ergebnislosen polizeilichen und juristischen Bemühungen berichten, die sektenartigen Strukturen zu ermitteln. Im Vergleich zu Betroffenendarstellungen wird diesen allerdings kaum Raum gegeben. Die Doku erreicht schließlich ihr moralisch empörendes Finale, als bekannt gegeben wird, dass die Tochter der Mutter entrissen worden sei und fortan beim Vater, ihrem Peiniger, leben müsse. Durch das Publikum, hauptsächlich bestehend aus Psychologen, Psychotherapeuten und Ärzten, ging ein entsetztes Raunen, und der Saal verdunkelte sich. Anschließend betrat die Regisseurin die Bühne vor der Leinwand, und die Veranstaltung erreichte ihre letzte Phase: die Diskussionsrunde.

Einordnungen

Ich möchte im Folgenden einige Gedanken zum Film und dessen Hintergründen thematisieren, bevor ich mein Fazit ziehe. Bevor Liz Wieskerstrauch jedoch die Diskussionsrunde eröffnete, berichtete sie von ihrer eigenen Motivation, diese Doku zu drehen. Dabei wurde mir eines deutlich: Die Regisseurin hat großes Mitgefühl mit den Betroffenen von ritueller Gewalt und hat sich wirklich zum Ziel gesetzt, diesen Menschen zu helfen und ihnen eine Lobby zu geben. Leider beginnt genau an dieser Stelle meine fundamentalste Kritik an dieser Dokumentation: Rituelle Gewalt in der von Wieskerstrauch dargestellten Form existiert so nicht. Schlimmer noch: sie ist Teil einer Verschwörungserzählung, die überhaupt erst zu dem unsäglichen Leid der Betroffenen führt. Aber eins nach dem anderen.

Was ist eigentlich was?

Was sich durch die komplette Doku zieht, ist ein großes Begriffswirrwarr. Eingeleitet wird der Film mit einem Verweis auf (real existierende) "sexuelle Gewalt" gegen Kinder, wie wir sie beispielsweise von direkten Übergriffen auf Kinder oder kinderpornografischen Materialien kennen, oder (ebenfalls real existierende) "organisierte Gewalt" gegen Kinder, bei der mehrere Täter kooperieren, um Kindern systematisch zu schaden. Beides kann selbstverständlich wiederholt geschehen. Im Film werden diese Sachverhalte dann mit dem Begriff der "rituellen Gewalt" vermengt, der auf im Geheimen agierende Tätergruppen hinweisen soll, die quer durch alle gesellschaftlichen Schichten organisiert seien und Kinder wiederholt für satanische Riten missbrauchen würden. Daher auch die in den USA typische Bezeichnung "satanic panic". Allerdings bleibt es nicht "nur" beim Missbrauch, denn die Tätergruppen würden geheime Techniken anwenden, um die Persönlichkeit der Kinder gezielt zu "spalten" und für spätere Aufgaben zu "programmieren" ("Mind Control"; im Film: "konditionieren" oder "trainieren"). Das Perfide daran: Die allermeisten haben schon einmal von den ersten beiden Missbrauchsformen gehört, weshalb es im Verlauf des Films sehr plausibel erscheint, dass es selbstverständlich ebenfalls auch rituelle Gewalt geben müsse. An einigen Stellen wird auch von ritueller Gewalt gesprochen, obwohl eine der anderen Missbrauchsformen beschrieben wird – und umgekehrt.

Die Öffentlichkeit, die Justiz und die Polizei

Die Dokumentation und die anschließende Diskussion lösen bei ihren Zuschauern im Prinzip konstant Misstrauen und Empörung aus: Wie kann es sein, dass den Opfern niemand glaubt? Wie kann es sein, dass die Justiz niemals jemanden verurteilt? Wie kann es sein, dass die Polizei niemals jemanden ermittelt? Wie kann es sein, dass die Wissenschaft seit Jahren nicht richtig dazu forscht? Wie kann es sein, dass die Öffentlich-Rechtlichen der Regisseurin keine Plattform für rituelle Gewalt geben wollen? Ganz einfach: Es ist der "Blinde Fleck"! Man wolle nicht hinsehen, man wolle sich nicht genug anstrengen – es kann nicht sein, was nicht sein darf. Die Opfer würden sich selbst überlassen bleiben.

Der Film sucht keine differenzierte Auseinandersetzung mit "ritueller Gewalt"; er berichtet über die Perspektive der Betroffenen und versucht, das durch "Experten" zu validieren, die diesem Glauben ebenfalls anhängen. Und dann gibt es da noch die Quotenkritiker – der kleine Lichtblick der Scharade, die sich Dokumentation nennt. Der ernüchternden Erkenntnis der Juristin und des Fallanalytikers, dass sämtliche Bemühungen, Tätergruppen zu ermitteln, über Jahre hinweg versandeten, wurde nicht weiter nachgegangen. Dabei hätte es sich genau an dieser Stelle angeboten, über "Verschwörungstheorie", "satanic panic", oder "Rituelle Gewalt / Mind Control" (RG-MC) zu sprechen. Diese Worte fielen allerdings nicht ein einziges Mal. Zu Kritikern der rituellen Gewalt wurde stattdessen verallgemeinert, dass diese die Existenz von DIS leugneten. Damit war das Thema auch schon erledigt. Echte Kritiker der Verschwörungserzählung sucht man in der Doku vergebens.

Filmszene: anonyme Mutter, Foto: © https://barnsteiner-film.de/ [5]

Dissoziative Identitätsstörung

Neben ritueller Gewalt bildet das Störungsbild der DIS ein weiteres Kernelement des Films. Allerdings wurde an keiner Stelle ausreichend erklärt, was das überhaupt sein soll und was darunter zu verstehen ist. In aller Kürze: Dissoziation bedeutet so etwas wie "Trennung" – nicht die Trennung eines Kindes von seiner Mutter, sondern die Trennung von psychischen Funktionen, die normalerweise ineinandergreifen und eine Einheit bilden. Während Sie jetzt gerade diese Zeilen lesen, konzentrieren Sie sich auf den Inhalt meiner Sätze und sind mit Ihrer Aufmerksamkeit ganz bei mir. Gleichzeitig erinnern Sie sich idealerweise noch an einige Sätze weiter oben und können deren Inhalte dann sinnvoll ergänzen. Somit arbeitet Ihre Aufmerksamkeit, Konzentration und Ihr Gedächtnis als Einheit zusammen, und Sie verstehen, was ich Ihnen hier erzählen möchte. Bei einer Dissoziation im klinisch relevanten Sinne funktioniert das nicht mehr ohne Weiteres. So gibt es dissoziative Störungsbilder, bei denen Menschen sich nicht mehr erinnern können, wie sie an einen bestimmten Ort gekommen sind (dissoziative Fugue), das Gefühl haben, dass die Realität vor ihren Augen verschwimmt (Derealisation), oder sie aus ihrem Körper "fahren" und sich von außen sehen (Depersonalisation).

Im Falle der DIS "spaltet" sich dann die Persönlichkeit in "Untereinheiten" auf, sodass mehrere Teilpersönlichkeiten entstehen, die durch bestimmte Reize (Trigger) hervorgerufen werden können und sich klar von anderen Persönlichkeiten abgrenzen lassen. Dissoziative Störungen entstehen in der Regel durch schlimme Lebensereignisse und stellen eine körpereigene "Schutzfunktion" dar. Wenn sich meine Wahrnehmung von meinem Bewusstsein abspaltet, nehme ich große Schmerzen nicht mehr wahr. In der Folge können sich dissoziative Zustände – aus Angst, diese schlimmen Schmerzen erneut durchleben zu müssen – dann "verselbständigen" und verschwinden nicht mehr von alleine. Die Schutzfunktion befindet sich also dauernd im Alarmzustand. Die häufigsten Dissoziationen sind die Derealisation und Depersonalisation.

In der Forschungswelt ist stark umstritten, ob traumatische Erlebnisse überhaupt dazu in der Lage sind, die Persönlichkeit in Teilpersönlichkeiten zu trennen. Als Neurowissenschaftler ist mir ehrlich gesagt auch vollkommen rätselhaft, wie das funktionieren soll. Tatsache ist allerdings, dass es Menschen gibt, die behaupten, dass es bei ihnen so sei. Lügen diese Leute also? Ich denke nicht. Langjährige Religionskritiker und Skeptiker wissen, wie hartnäckig manche Leute an unplausiblen Überzeugungen festhalten können, ohne zu merken, wie grandios sie danebenliegen. Auch Erinnerungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Unser Gehirn ist kein Computer, in den wir sauber strukturierte Word-Dateien ablegen können, die wir bei Bedarf einfach per Doppelklick öffnen und in ihrer Ursprungsversion vorfinden. Das Gehirn ist vielmehr ein plastisches Organ, in dem Erinnerungen mit Gefühlen, Sinneseindrücken und Repräsentanzen von sich und der Umwelt vermengt werden, die bei jedem Abruf veränderlich sind. Die amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus konnte in ihren gedächtnispsychologischen Experimenten zeigen, wie einfach es ist, Erinnerungen "umzuschreiben" oder gar völlig neue "einzupflanzen". Mit minimalem Aufwand konnte sie einigen ihrer Probanden einreden, ein Verbrechen begangen zu haben, das niemals passiert war.

Auffällig ist, dass die Mehrheit der DIS-Diagnosen auf das Konto einer überschaubaren Zahl von Therapeuten zurückzuführen ist. Tendenziell wird davon ausgegangen, dass es sich bei der DIS um eine sogenannte "iatrogene", also durch den Behandler verursachte Störung handelt. Heutzutage spielen Soziale Medien sicherlich ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle in der Störungsgenese. Für Interessierte sei an dieser Stelle auf einen umfangreichen Artikel im Psychotherapeutenjournal [6]verwiesen, der den angesprochenen Aspekten weiter auf den Grund geht.

Diskussionsrunde

Bevor ich mir den Film angesehen habe, wusste ich bereits, was mich erwarten wird. Ich ahnte, dass ich einige meiner psychologischen Kolleginnen und Kollegen im Kino antreffen würde, die sich mit dem "Mysterium" rund um rituelle Gewalt beschäftigen wollen. Gerade deshalb konnte ich es mir nicht entgehen lassen, die Regisseurin mit einigen Fakten zum Film zu konfrontieren, die sie meiner Ansicht nach unterschlagen hat. Beispielsweise sei die Mutter "nachweislich der Falschbeschuldigung und des Kindesentzugs überführt worden [7]" und die Polizei hätte bei der Vernehmung der Tochter den Eindruck gehabt, dass das Kind "höchstwahrscheinlich" einen vorher einstudierten Text geschildert habe. Die Mutter hätte später sogar eine Haftstrafe auf Bewährung erhalten, während die Tochter schon eine Weile bei Pflegeeltern untergebracht worden sei. Zudem wies ich Liz Wieskerstrauch darauf hin, dass der Film eben nicht, wie von ihr behauptet, ausgewogen und kritisch gedreht worden sei und dass es bereits Fälle gibt [8], in denen Patienten aufgrund des RG-MC-Verschwörungsmythos geschädigt wurden.

Ellen Engel, Foto: © https://barnsteiner-film.de/ [5]

Die Regisseurin geriet daraufhin in deutliche Erklärungsnöte und lenkte in weitschweifigen Reden vom Thema ab und versuchte, sich selbst in einem positiven Licht darzustellen. Es gehe ihr darum, den Opfern zu helfen und nicht zu bewerten, entgegnete sie. Sie wolle den schwer traumatisierten Menschen Glauben schenken und ihnen eine Stimme geben – eine häufig entgegnete Antwort, die impliziert, dass Kritiker der RG-MC nicht am Leid der Betroffenen interessiert seien. Zudem sei die Geschichte mit der Mutter und der Tochter ein "fiktiver Fall", der so nicht existiere und aus mehreren Betroffenenberichten konstruiert sei, der dann von einer Schauspielerin gespielt worden sei. Kurz darauf meldete sich ein junger Mann aus der ersten Reihe und stellte eine Frage, die, wie ich fand, genau ins Schwarze traf: "Wenn der Fall nur konstruiert und von einer Schauspielerin gespielt worden ist, dann ist das doch keine Dokumentation, oder?" Das war mein Moment der Zufriedenheit.

Fazit

Der "Dokumentationsfilm" "Blinder Fleck" ist ungeachtet des Inhalts gut anzuschauen, spannend und emotional äußerst ergreifend. Ist man allerdings an Authentizität interessiert, dann wendet sich das Blatt und segelt in den Abgrund. Neben unklaren Begrifflichkeiten, einseitiger und unkritischer Umsetzung sowie dem systematischen Auslassen relevanter Informationen versucht dieser Film, die RG-MC -Verschwörungserzählung salonfähig zu machen und verbreitet daher Desinformationen. Zudem besteht das Problem, dass Pädagogen, Psychologen, Psychotherapeuten und Ärzte sich mit einer von der FBW ausgezeichneten "Dokumentation" weiterbilden, die RG-MC an ihre Patienten herantragen und damit eine Symptomverschlechterung und -chronifizierung riskieren. Mir ist vollkommen schleierhaft, wie die Deutsche Film- und Medienbewertung zu ihrer positiven Bewertung des Films gekommen ist.

Für weiterführende Gedanken zum Film sei auf ein Interview von Skeptix [9] und für ausführliche Informationen zur RG-MC auf eine umfangreiche Broschüre der [10] Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) [10] verwiesen.
Liz Wieskerstrauch: "Blinder Fleck", Dokumentarfilm, Deutschland 2025, 81 Minuten, FSK 16

Source URL:https://gbs-bodensee.de/meldung/wer-ist-hier-blind

Links
[1] https://gbs-bodensee.de/meldung/wer-ist-hier-blind [2] https://barnsteiner-film.de/blinder-fleck/ [3] https://www.fbw-filmbewertung.com/film/blinder_fleck [4] https://zebra-kino.de/ [5] https://barnsteiner-film.de/ [6] https://www.psychotherapeutenjournal.de/2025/2/ptj202502.003 [7] https://skeptix.org/2025/10/22/wird-der-dokumentarfilm-blinder-fleck-immer-mehr-zu-einer-muenchhausen-story/ [8] https://www.tg.ch/news.html/485/news/61261 [9] https://skeptix.org/2025/06/13/rituelle-gewalt-mind-control-die-vielen-blinden-flecke-des-dokumentarfilms-blinder-fleck/ [10] http://www.gwup.org/wp-content/uploads/pdf/GWUP_Broschre_RG-MC-dc4.pdf