Kinderbetreuung: Mangelnde Selbstreflektion und Pseudowissen
Interview von Alexander Wolber
Als Reaktion auf den im hpd erschienenen Artikel zur Qualität von Erziehern in Kitas hat sich eine pädagogische Fachkraft im Humanistischen Bildungs- und Begegnungszentrum Konstanz (hbbk) gemeldet und von ihren Erfahrungen im Kita-Alltag berichtet. Sie erklärte sich bereit ein Interview zu führen und Alexander Wolber sprach mit ihr.
Alexander Wolber: Ich freue mich sehr, dass Sie sich bei uns gemeldet haben und über Ihre Erfahrungen berichten möchten. Wie sind Sie denn überhaupt auf uns aufmerksam geworden und wieso haben Sie sich entschieden uns zu kontaktieren?
Anna Mainau (Name zum Schutz der Identität geändert): Ich habe Ihren Artikel zur stillen Krise der Erzieherqualität gelesen und war im ersten Moment etwas überrascht, dass sich jemand mit diesem Thema beschäftigt.
Vieles in Ihrem Artikel konnte ich gut nachvollziehen und Vieles erlebe ich auch persönlich im Kita-Alltag. Ich bin regelmäßig im Austausch mit meinen Teamkollegen und auch mit vielen Erziehern aus anderen Einrichtungen. Wir sprechen oft über unsere Arbeit und berichten uns von unseren Erfahrungen. Es geht immer wieder um die belastenden Arbeitsbedingungen, wie stressig und anstrengend der Arbeitsalltag ist, häufige Krankheitsausfälle, die Unterbesetzung, herausfordernde Kinder, unzufriedene Eltern, Konflikte im Team usw. Aber sich selbst und die eigene Arbeit kritisch zu sehen, ist kaum ein Thema.
Ich hatte schon viele Diskussionen dazu, aber es ist eigentlich immer das gleiche: Einige sind der Meinung, dass sich die Rahmenbedingungen zuerst verbessern müssen und fragen, wie sie denn sonst ihre Arbeit besser machen können. Andere denken, dass sie schon einen guten Job machen, weil sie schon lange im Beruf sind oder selbst Kinder haben. Für viele reicht das aus, um eine "gute Erzieherin" zu sein.
Einige meiner Kollegen und ich haben dazu teilweise eine sehr gegensätzliche Meinung, ich bin schon oft auf großes Unverständnis und Kopfschütteln gestoßen. Mir wurde zum Beispiel oft gesagt, dass ich mit meiner Meinung den Beruf des Erziehers nicht wertschätzen und ihn in ein schlechtes Licht rücken würde. Außerdem sei ich noch jung und nicht lange genug in dem Beruf.
Ich empfand das immer als sehr schade, da man seine eigene Arbeit und sein eigenes Handeln auch kritisch betrachten kann, ohne gleich den ganzen Beruf abzuwerten. Irgendwann habe ich es dann gelassen über das Thema zu sprechen. Es führte zu nichts und ich wollte zusätzlich zu der angespannten Arbeitssituation nicht noch weitere Konflikte verursachen.
Sie hatten also das Gefühl, dass Sie mit Ihrer Meinung zu problematischen Einstellungs- und Verhaltensweisen von Kolleginnen und Kollegen in der Minderheit sind und haben sich bestärkt gefühlt, sich öffentlich zu äußern. Erzählen Sie doch zunächst grob etwas zu sich, sodass die Leser ein wenig einordnen können, welchen Erfahrungshintergrund Sie haben.
Ich bin seit mehreren Jahren als pädagogische Fachkraft tätig und habe schon in vielen Städten und Bundesländern in unterschiedlichen Kinderkrippen und Kitas gearbeitet. Es waren mal kleinere Einrichtungen dabei mit maximal 20 Kindern und auch größere, die bis zu 80 Betreuungsplätze anbieten. Momentan arbeite ich in einer städtischen Kita und betreue gemeinsam mit sechs Kolleginnen knapp 40 Kinder im Alter von einem Jahr bis sechs Jahren.
Wie würden Sie denn die Teamdynamiken in den Kitas beschreiben, die Sie bisher kennengelernt haben?
Da habe ich ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. In einigen Einrichtungen habe ich in sehr engagierten Teams gearbeitet. Man hat sich gegenseitig unterstützt, konnte sich aufeinander verlassen und hat eine gemeinsame pädagogische Haltung vertreten. Der Umgang miteinander war freundlich, wir haben uns gegenseitig respektiert und wir haben uns miteinander einfach wohl gefühlt. Es war ein Zusammenarbeiten Hand in Hand, auch an Arbeitstagen, die sehr stressig waren. Das Arbeiten in diesen Teams war sehr schön und hat mir immer sehr viel Spaß gemacht. Ich habe mich sowohl darauf gefreut, die Kinder am nächsten Tag wieder zu sehen, als auch meine Kollegen.
Ich habe aber auch in Teams gearbeitet, in denen das ganz anders war. Zum Beispiel wurden Meinungsverschiedenheiten untereinander nicht offen angesprochen oder Konflikte wurden nicht richtig gelöst und hingen dann so in der Luft. Kritik wurde oft auch sehr persönlich genommen. In den wöchentlichen Teamsitzungen waren diese Probleme oft kein Thema. Häufig hieß es, dafür sei nicht genügend Zeit und es gäbe andere Prioritäten. Persönliche Probleme sollten selbstständig untereinander geklärt werden.
Die Kommunikation und der Austausch untereinander, zum Beispiel zu organisatorischen Abläufen, Abstimmungen oder dass wichtige Informationen an alle Kollegen weitergegeben werden, waren teilweise auch ein großes Problem. Es wurden Absprachen immer wieder nicht eingehalten, da einzelne Kollegen diese nicht sinnvoll fanden und letztlich hat dann doch wieder jeder so gearbeitet, wie er es persönlich für richtig hielt. Teilweise waren die Kollegen untereinander auch sehr kompetitiv. Sie haben sich miteinander verglichen, zum Beispiel wer seine Arbeit besser macht, wer mehr Erfahrungen mitbringt oder wer von den Kindern lieber gemocht wird. Es wurde hinter dem Rücken anderer schlecht voneinander gesprochen, teilweise auch in Anwesenheit der Kinder. Das ging dann auch soweit, dass sich einzelne Kolleginnen morgens sogar nicht mehr begrüßten oder anschauten.
Verstehe, es scheint also auch innerhalb der Teams zu Problemen zu kommen. In unserem Vorgespräch haben Sie berichtet, dass neben fehlendem Fachwissen einiger Erzieher auch Praktiken und Methoden eingesetzt werden, die man als "pseudopädagogisch" oder "pseudowissenschaftlich" beschreiben könnte. Könnten Sie das ein wenig ausführen?
Ja, das kenne ich aus einigen Einrichtungen. Viele meiner Kolleginnen schwören zum Beispiel auf Traumfänger und Lavendel, damit Kinder besser einschlafen können. Zur Entspannung sollen außerdem auch Räucherstäbchen und Klangschalen helfen. Dann gibt es auch viele meiner Kolleginnen, die das Verhalten der Kinder mit Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung erklären.
Ich erinnere mich zum Beispiel an einen dreijährigen Jungen, der viel Unterstützung bei der Regulation seiner Gefühle und im Umgang mit Frustration brauchte. Immer wenn er weinte oder sich ärgerte, nahm er seinen Daumen in den Mund. Eine Kollegin machte sich darüber große Sorgen und sagte mir, die orale Phase würde doch maximal bis zum zweiten Lebensjahr gehen, der Junge ist aber schon drei, das wäre kein gutes Zeichen. Wenn er später mal erwachsen ist, würde er in eine Alkoholsucht abrutschen. Sie müsse mal dringend mit seiner Mutter sprechen. Ich war erstmal sprachlos. Bis zu dem Zeitpunkt dachte ich, dass jeder Erzieher heute weiß, dass die Theorie der psychosexuellen Entwicklung schon längst überholt ist.
Dann habe ich viele Erzieher kennengelernt, die an Sternzeichen glauben und behaupten, dass sie etwas über die Persönlichkeit der Kinder aussagen würden. Das habe ich bisher in jeder Einrichtung mindestens von einem Erzieher gehört.
Viele meiner Kollegen sind auch sehr angetan von der Waldorfpädagogik. Sie haben zum Beispiel im Morgenkreis oder beim Mittagessen die Sitzordnung der Kinder so festgelegt, dass ihre "Temperamente" zusammenpassen würden. Das sollte den Kindern Ruhe bringen und wäre gut für eine "positive Lernatmosphäre", wurde mir gesagt.
Eine andere Erzieherin hat mir mal erzählt, dass sie in ihrer Einrichtung miterlebt hat, wie ein zweijähriges Kind zum Aufessen gezwungen wurde. Als das Kind sich weigerte und aufstehen wollte, habe die Erzieherin es zurück in den Stuhl gesetzt und einen Sicherheitsbügel angebracht. Das Kind sollte so lange sitzen bleiben, bis der Teller leer war. Eine andere Erzieherin sei dann eingeschritten.
Viele meiner Kollegen haben einen christlichen Glauben und sie betonen immer wieder, dass es wichtig sei, Kindern schon früh christliche Werte zu vermitteln, damit sie sich gut entwickeln. Ich selbst bin nicht religiös und wurde deshalb von vielen Kitas abgelehnt. Bei einem Vorstellungsgespräch in einem protestantischen Kindergarten wurde mir gesagt, dass sie sich mich gut in ihrem Team vorstellen könnten. Sie hatten mir sogar eine Stelle als stellvertretende Leitung angeboten. Aber es gäbe da nur das Problem, dass ich weder katholisch noch evangelisch bin und ich somit auch keine christlichen Werte hätte. Das würde sich aber lösen lassen. Sie gaben mir die Kontaktdaten eines Pfarrers, bei dem ich mich taufen lassen könne, ohne eine große Feier und in nur zehn Minuten.
So wie Sie das berichten, klingt das schon sehr verwunderlich. Wie steht es denn mit Fort- und Weiterbildungen? Haben Erzieher nicht hier die Gelegenheit ihr Fachwissen aufzubessern?
Ja, es gibt Fortbildungen zu vielen Themen. Aber ich würde sagen, da gibt es große Qualitätsunterschiede. Ich habe schon Fortbildungen besucht, die wirklich gut waren und mir viel für die Praxis gebracht haben; und ich hatte auch schon Fortbildungen, da wurden Dinge erzählt, die einfach nicht richtig waren. Zum Beispiel, dass Kleinkinder noch kein Schmerzempfinden hätten, dass Autismus durch Impfungen verursacht wird, aber auch, dass Autismus heilbar wäre und es kein ADHS geben würde, die Kinder seien nur etwas aufgeweckter als andere und man solle doch nicht alles gleich so pathologisieren.
Das Thema Werte kommt auch immer wieder vor. Der Begriff wird oft nicht richtig erklärt und jeder hat sein eigenes Verständnis davon. Es wird oft vermittelt, dass alle, die mit Kindern arbeiten, christliche Werte haben müssen, so als wäre das die Grundlage dafür, um seine Arbeit gut machen zu können.
Das klingt so, als ob häufig nicht geeignete Fortbildungsmaßnahmen angeboten werden. Was müsste sich aus Ihrer Sicht denn verändern, dass die erzieherische Arbeit professioneller wird?
Ich denke, es wäre wichtig genauer auf die Ausbildung an sich und auf die einzelnen Ausbildungsinhalte zu schauen. Da gibt es zum Beispiel Inhalte, die gelehrt werden, aber schon sehr veraltet sind, wie zum Beispiel Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung, von der ich Ihnen vorhin berichtet habe. Es ist wichtig die Inhalte immer wieder zu prüfen und auf einem aktuellen Stand zu halten. Ich persönlich finde es auch wichtig kritisches Denken zu lernen, also Dinge nicht einfach nur so hinzunehmen, sondern sie zu hinterfragen, zu bewerten und genauer verstehen zu lernen. Davon profitieren die Kinder auch.
Die Möglichkeit, Fortbildungen zu besuchen, finde ich gut. Aber es ist wichtig darauf zu achten, dass die Themen bewusster ausgesucht werden und zum Beispiel besser geprüft wird, ob es sich um fundierte Fortbildungskurse handelt. Ich finde, Supervisionen sollten auch sinnvoller, mit Blick auf aktuelle Themen in der Arbeit mit den Kindern und im Team angeboten werden.
Ganz wichtig finde ich es persönlich auch, stärker sein Handeln und seine eigene Haltung immer wieder kritisch zu reflektieren. Es ist auch nicht schlimm, zu erkennen, dass man mal mit seinem Wissen an seine Grenzen kommt. Ich finde es viel bedenklicher, die Augen davor zu verschließen und sich selbst trotz mangelndem Fachwissen als Experte zu sehen.
Um nicht alles komplett in ein negatives Licht zu rücken, würde mich zum Abschluss des Interviews interessieren, welche positiven Erfahrungen Sie mit Kitas und Ihren Erzieher-Kollegen gemacht haben?
Es ist nicht alles nur negativ. Die Arbeit hat viele schöne Seiten. Es ist ein sehr vielseitiger Job und jeder Tag ist ein bisschen anders. Wir können Kinder in einem Altersbereich begleiten, in dem so viel in ihrer Entwicklung passiert und dürfen ein Teil davon sein. Ich habe Teams kennengelernt, in denen es gut klappt, die Zusammenarbeit schön war und auch die Eltern dem Team gegenüber sehr wertschätzend und unterstützend waren.
Ich bedanke mich für das Gespräch und Ihre Offenheit!
Das Interview erschien auch im hpd.