Japan stärkt Menschenrechte für Kinder und schwächt religiöse Willkür
Von Alexander Wolber
Mit neuen Gesetzen und Richtlinien stärkt Japan Kinderrechte und schützt sie vor religiösem Missbrauch. Zudem verlieren Religionsgemeinschaften in Japan an Macht, sodass sich der Staat und Privatpersonen leichter gegen manipulatives und schädliches Verhalten religiöser Organisationen wehren können. Religionsgemeinschaften sehen sich in ihren Menschenrechten beschnitten.
Am 8. Juli 2022 wurde der ehemalige japanische Premierminister Shinzō Abe während eines Wahlkampfauftritts erschossen. Die mutmaßlichen Motive des Täters: wirtschaftlicher Ruin der Mutter infolge von Spenden an die Vereinigungskirche (umgangssprachlich "Moon-Sekte" genannt) sowie die Verbindungen Abes zu dieser Organisation. Der Fall löste weltweite Bestürzung aus und führte zu innerjapanischen Unruhen, die einige rechtliche Maßnahmen für Religiöse zur Folge hatten: den Schutz von Kindern vor religiösem Missbrauch, vereinfachte Auflösung religiöser Organisationen und erleichterte Spendenrückforderungen von religiösen Gruppen.
Kinderschutz vor religiösem Missbrauch
Auch wenn der argumentative Sprung von der Ermordung des ehemaligen Premierministers aus niederen Beweggründen zu rechtlichen Änderungen für Religiöse gewiss ein paar Logiklücken enthält, so sind diese Maßnahmen nicht automatisch unbegründet.
Am 27. Dezember 2022 veröffentlichte das japanische Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales ein Q&A, das Kindesmisshandlungen im Zusammenhang mit religiösem Glauben adressiert und Beratungsstellen sowie weitere öffentliche Hilfen aufforderte, entsprechenden Hinweisen nachzugehen. Unter Kindesmisshandlungen versteht das Ministerium nicht ausschließlich schwerste Straftaten am Kind, sondern auch solche Handlungen von Mitgliedern religiöser Gruppen, die Kinder bedrohen oder zwingen, an religiösen Aktivitäten teilzunehmen, oder solche, die die berufliche Laufbahn eines Kindes aufgrund religiöser Doktrin behindern, wie The Straits Times berichtet. Beispiele solcher Kindesmisshandlungen umfassen Körperstrafen, psychischen Druck, etwa durch Drohungen mit der Hölle, Verbot bestimmter Medien oder Einschränkung der freien Entscheidungsfähigkeit, sexuelle Misshandlungen, zum Beispiel in Form von Druckausübung, religiösen Funktionären persönliche sexuelle Erfahrungen zu beichten, oder durch Vernachlässigung, im Sinne von der Verweigerung medizinischer Behandlungen oder durch das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen.
Das originale japanische Q&A sowie eine deutsche wörtliche Übersetzung mittels ChatGPT sind dem Artikel angehängt.
Mit diesen Maßnahmen kommt Japan grundlegenden Forderungen der UN-Kinderrechtskonvention nach, insbesondere Artikel 2 Absatz 1 (Achtung der Kinderrechte; Diskriminierungsverbot), Artikel 14 Absatz 1 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit), Artikel 19 (Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung) und Artikel 29 Absatz 1 (Bildungsziele; Bildungseinrichtungen).
Gerade in Bezug auf Kinderrechte sehen wir auch hier in Deutschland Missstände. Mehrfach sind Versuche gescheitert, Kinderrechte ins Grundgesetz (GG) einzutragen, obwohl die UN-Kinderrechtskonvention seit 1992 auch in Deutschland gilt. Warum ist eine Eintragung ins GG überhaupt notwendig? Der Kinderschutzbund argumentiert, dass Kinder für ihre Rechte nicht eintreten können und daher von Politik, Verwaltung und Rechtsprechung nur unzureichend berücksichtigt werden. Das Recht auf Schutz, Beteiligung und Interessen der Kinder in allen Lebensbereichen wird zu oft vernachlässigt, weshalb Kinder offenkundig mehr Rechte als Erwachsene benötigen, damit sie überhaupt ausreichend berücksichtigt werden.
Japan ist diesen Zusatzrechten vor allem auf dem weltanschaulichen Spielfeld nachgekommen und schützt damit Kinder vor ideologischen Einflüssen ihrer Eltern und Religionsgemeinschaften, zumindest solange, bis sie selbst bestimmen können, ob sie sich einer Gemeinschaft anschließen möchten. In einem scheinsäkularen Land wie Deutschland erscheint ein solcher Akt des Kinderschutzes gegenwärtig undenkbar. Sogar ganz im Gegenteil, hier können Religionen ihre Macht nach Belieben ausspielen, ohne Sorge haben zu müssen, dass die Politik ihrer Pflicht zum Schutz der Kinder nachkommt. Beste Beispiele sind die sexuellen Kindesmissbräuche der christlichen Großkirchen, die sukzessive Ausweitung des islamischen Religionsunterrichts, angetrieben durch Akteure des Politischen Islam oder die Knabenbeschneidung durch erzkonservative Juden und Muslime.
Erleichterte Auflösung und Spendenrückforderung von religiösen Organisationen
Eine zweite Maßnahme betrifft die rechtlichen Rahmenbedingungen ("Religious Corporations Act"), mit denen Gerichte in Japan die Möglichkeit haben, religiöse Organisationen aufzulösen. Vor der Ermordung Abes wurde das Gesetz zur Auflösung religiöser Körperschaften so ausgelegt, dass sich religiöse Organisationen eine Reihe schwerer Straftaten haben zuschulden kommen lassen müssen, bis eine Auflösung von staatlicher Seite überhaupt in Erwägung gezogen wurde. Diese Hürden wurden nun deutlich herabgesetzt, sodass bereits eine Reihe von verlorenen Zivilklagen für ein Auflösungsverfahren ausreichen kann. So erging es der Vereinigungskirche am 25. März 2025, als ein japanisches Gericht die Sekte als "erheblich schädlich für das öffentliche Wohl" einstufte. Einerseits haben staatliche Organe nun mehr Freiheiten, frühzeitig in unlautere religiöse Machenschaften einzugreifen, andererseits erhöht sich damit auch die Missbrauchsgefahr, unliebsame Meinungen und Weltanschauungen bei Bedarf zu beseitigen. Das Spannungsverhältnis zwischen der verfassungsmäßig garantierten Religionsfreiheit und der erleichterten Auflösbarkeit religiöser Körperschaften verschärft sich jedenfalls.
Die dritte Maßnahme erleichtert die Rückforderung von Spenden an als problematisch eingestufte religiösen Gruppen durch die Spender oder deren Familien ("Relief Law against Unjust Solicitation of Donations"). Hierbei handelt es sich um eine Art "Verbraucherschutzmaßnahme" für Personen, die Opfer von Manipulationen, Verunsicherungen oder Versprechen geworden sind und in der Folge zu Spenden und anderen Käufen religiöser Utensilien verleitet wurden.
Religiöses Melodrama
Protestantische und katholische Medien griffen die "problematischen Gesetze" und die "Krise der Religionsfreiheit" in Japan bereits auf und sehen grundlegende Menschenrechte verletzt, was einem insbesondere in katholischer Hinsicht ein Schmunzeln ins Gesicht zaubern sollte, da der Vatikan die UN-Menschenrechtscharta bis heute ablehnt. Die Bezugnahme beider Medien führt auf einen Artikel des Onlineportals von Bitter Winter, das als Magazin für Religionsfreiheit und Menschenrechte eine "religious liberty crisis" in Japan heraufbeschwört. Mit einem "impact statement" sammelte Bitter Winter die Unterschriften von 32 Personen, darunter Geistliche, Wissenschaftler und Menschenrechtsaktivisten, um die japanische Regierung zur Rücknahme ihrer gesetzlichen Maßnahmen zu bewegen, die die Religionsfreiheit im Land einschränken würden. Dabei lassen die Autoren keine Gelegenheit aus, darauf hinzuweisen, wie sich eine Demokratie wie Japan verhalten solle, nämlich insofern, dass das Recht von keiner Religion willkürlich verletzt werden dürfe, frei zu handeln und ihre Werte an die nächste Generation weiterzugeben.
Man fragt sich beim Lesen dieses Artikels, wieso niemand den Autoren von Bitter Winter erklärt hat, dass das Recht auf Religionsfreiheit vom Individuum her definiert wird und nicht von der Religion, dass Religionsfreiheit auch Freiheit von der Religion bedeutet und dass Religionsfreiheit nicht bedeutet, dass Religionen stets alles tun dürfen was sie wollen. Allerdings bleibt es nicht bei dieser kruden Auffassung von Religionsfreiheit. Gegen Ende fährt Bitter Winter dann noch die ganz großen Geschütze auf. Wenn man sonst keine guten Argumente findet, kann man notfalls nämlich immer noch eine Nazi-Relativierung heranziehen und den lutherischen Pastor Martin Niemöller erwähnen mit dem Zitat: "Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte."
Laut eigener Aussage ist Bitter Winter unabhängig von religiösen Organisationen. Von den 32 Unterzeichnern des erwähnten "impact statements" sind nach eigener Recherche 16 Personen ohne religiöse Verbindungen. Bei der anderen Hälfte handelt es sich um katholische Priester und Gläubige, Mormonen, Pfingstkirchler, Mitglieder der Vereinigungskirche, einen Imam und einen Scientologen. Unter den Unterzeichnern befindet sich Massimo Introvigne, Chefredakteur von Bitter Winter und Professor für Religionssoziologie an der Päpstlichen Universität der Salesianer. Zusammen mit dem Religionshistoriker und ehemaligen Opus Dei-Mitglied Jean-François Mayer, dem Religionswissenschaftler und ordinierten Geistlichen der Evangelisch-methodistischen Kirche John Melton und der Soziologieprofessorin und nicht-religiösen Eileen Barker, gründete er 1988 das in Italien angesiedelte Zentrum für Studien über neue Religion (CESNUR), das nach eigenen Angaben seinerseits unabhängig von religiösen Gruppen und Kirchen ist. CESNUR gibt darüber hinaus im Übrigen das Onlinemagazin Bitter Winter heraus.
Ob Bitter Winter also wirklich religiös unabhängig ist und rein aus Menschenrechtsperspektive handelt, kann nicht abschließend geklärt werden, jedoch sind Zweifel daran mehr als berechtigt. Wenn eines aber sicher ist, dann, das Bitter Winter mit ihrem "impact statement" bitter danebenlagen.