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Die Psychologie der extremistischen Brückennarrative

"Hier hilft nur Aufklärung".

Auf dem Fachtag "Rechtsextremismus in Beratung und Psychotherapie" des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) hielt Jan-Gerrit Keil Ende September einen Vortrag "zur Psychologie extremistischer Brückennarrative". Herr Keil ist studierter Psychologe und arbeitet als Oberpsychologierat beim Landeskriminalamt der Polizei Brandenburg in der Abteilung Zentraler Staatsschutz/Terrorismusbekämpfung. Alexander Wolber sprach mit ihm über extremistische Brückennarrative und wie man ihnen entgegnen kann.

[Dieses Interview ist zuerst beim hpd erschienen.]

hpd: Herr Keil, um direkt beim Titel Ihres Vortrags zu bleiben: Können Sie kurz erklären, was Sie unter "Extremismus" und "Brückennarrativen" verstehen und inwiefern hier eine psychologische Perspektive hilfreich ist?

Jan-Gerrit Keil: Unter dem Begriff Extremismus werden alle Bestrebungen gefasst, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richten und eine andere Gesellschaftsform zum Ziel haben, zum Beispiel den Faschismus, einen Gottesstaat oder eine Räterepublik, um einige Beispiele aus den verschiedenen Phänomenbereichen des Rechtsextremismus, religiösen Extremismus oder Linksextremismus zu nennen.

Brückennarrative bezeichnen bestimmte Ideologeme, Metaphern und Erzählungen, die oft sehr ähnliche Muster und Erzählstränge aufweisen und damit einerseits Schnittmengen zwischen den verschiedenen Phänomenbereichen des Extremismus schaffen, die aber andererseits auch dazu beitragen, bestimmte Diskurse von den Rändern des Extremismus in die Mitte der Gesellschaft zu transportieren. Brückennarrative sind somit Propagandawerkzeuge der Extremisten. Beliebte geteilte Feindbilder sind zum Beispiel die Moderne, die Wissenschaft, "die da oben" und die Juden, die angeblich hinter allem stecken würden.

Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sehen Sie zwischen Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus?

Zum Beispiel den Antisemitismus findet man in allen drei extremistischen Milieus mit leicht veränderten Nuancen, als antiimperialistische Israelkritik, als elitäre Verschwörung der Globalisten, als Antizionismus und als kulturell oder biologistisch begründeter Judenhass. Aber auch in der Einstellung gegenüber der Pressefreiheit und der Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Medien unterscheiden sich diese Milieus kaum. Fundamentale evangelikale Christen in den USA und islamistische Taliban werden sich sicher auch schnell in ihrem traditionell patriarchalischen Frauenbild einig, ebenso wie in ihrer geteilten Wissenschaftsfeindlichkeit, der gemeinsamen Ablehnung von LGBTQ+, der Begeisterung für privaten Waffenbesitz und der festen Überzeugung, dass nur die eigene, einzig richtige Religion das Schulbuchwissen des jeweiligen Landes darstellen sollte.

Hat jede dieser drei extremistischen Gruppen ihre eigenen Brückennarrative, oder gibt es auch Überschneidungen bzw. Synergien?

Die vorhergehende Antwort zeigt da schon einige Tendenzen auf. Es gibt Feindbilder, von denen sich alle drei Milieus erhoffen, dass sie damit die Protestpotentiale in der Allgemeinbevölkerung auf ihre Seite ziehen könnten. Das gemeinsame Schimpfen auf die "Lügenpresse" wäre solch ein geteiltes Feindbild. Dann gibt es das Tradwife-Narrativ der klassischen Rolle der Frau am Herd als Mutter und Unterstützerin ihres Mannes, das sehr gut an den Rechtsextremismus und den Islamismus, aber nicht so gut an den Linksextremismus andocken kann, was nicht bedeutet, dass nicht auch dort chauvinistische Tendenzen in bestimmten Kreisen erkennbar sind. Auch finden wir im rechten wie im linken Lager eine gleichzeitige große Begeisterung für autoritäre Führer wie Putin und Trump, die beide mit männlicher Dominanz im Sinne des Archetypus eines Stammesführers als Platzhirsche zu punkten versuchen.

Wie entstehen solche Brückennarrative überhaupt?

Die Metaphern oder Erzählstränge müssen erst einmal griffig und interessant klingen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und eine vermeintlich schlüssige Geschichte erzählen. Sehr gut ist das derzeit am Begriff der "Remigration" zu erkennen. Hier ist es der Identitären Bewegung und der AfD gelungen eine Wortmarke zu etablieren, die sofort in den Diskurs der Mitte-Gesellschaft eingebrochen ist. Bis vor drei Jahren war der Begriff außerhalb der rechten Szene nur ein paar Rechtsextremismusforschern bekannt. Inzwischen haben ihn die Presse und die Opposition als Reizbegriff aufgenommen und damit unbewusst zu seiner Etablierung und Verbreitung beigetragen.

Damit werden im Fahrwasser der Diskussion dann aber auch die dazugehörigen Ideologiefragmente wie das der "Umvolkung", des "großen Austauschs", great reset und white genocide immer weiterverbreitet. Schlägt man dann die Brücke vom Bevölkerungsaustausch zur Bevölkerungsreduktion, hat man eine weitere Verbindung zum Milieu der Impfgegnerschaft und verschwörungstheoretischen Erzählungen über angebliche Giftstoffe und Chips geschlagen, die sich in der Gesamtheit nur durch die Annahme einer geheimen mächtigen Elite im Hintergrund erklären lässt, die angeblich hinter diesem großen bösen Plan steckt.

Wie beeinflussen diese Brückennarrative das Agieren der jeweiligen Gruppe – sowohl nach innen wie auch nach außen?

Für die Gruppe dienen solche Narrative der Legitimation des eigenen gewaltsamen Handelns gegenüber den eigenen Anhängern und Sympathisanten. Wenn die Hamas am 7. Oktober 2023 Israel mit einem terroristischen Angriff überfällt und dabei gezielt über 1.000 Zivilisten umbringt, dann kann sie das nur tun, wenn sie ein starkes Narrativ in Bezug auf ihre eigene Bevölkerung im Gaza hat, dass diese Handlung alternativlos und gerechtfertigt war. Denn die dadurch evozierten Reaktionen haben für die Zivilbevölkerung im Gaza erwartbar schlimmes Leid zur Folge. Diese zivilen Opfer im Gaza hat die Hamas einberechnet und kann sie dann im medialen hybriden Krieg nach außen wiederum benutzen, um Israel als "Kindermörder" darzustellen und damit auf ein althergebrachtes antisemitisches Stereotyp zurückzugreifen. Solche Narrative dienen also einerseits nach innen der Rechtfertigung gegenüber den eigenen Mitgliedern, aber auch nach außen, um gegenüber der Welt Terror gegen Zivilisten als antikolonialistischen Befreiungsakt zu verkaufen.

Welche Rolle spielen extremistische Brückennarrative bei der Entstehung von Taten, bei der Tatbegehung sowie im Unterstützerumfeld?

Bei der gewaltsamen Capitolerstürmung in den USA anlässlich der Wahl von Joe Biden gegen den Willen des scheidenden Präsidenten Donald Trump am 6. Januar 2021 trug der sogenannte Bison-Mann Jake Angeli neben seiner Bison-Verkleidung auch ein Schild auf dem geschrieben stand "Q sent me". Damit berief sich Angeli unmittelbar auf das "QAnon"-Narrativ, wonach Trump ein Befreiungskämpfer gegen eine angebliche Kinderpornomafia aus Demokraten und Hollywood-Schauspielern sei, die sich am "Adrenochrom"-Blut von unterirdisch gefangenen Kellerkindern laben würden. Damit sah sich Angeli durch das "QAnon"-Narrativ zum Handeln beauftragt und schritt zur Tat. Wie am Beispiel der Hamas auch schon gezeigt, können Brückennarrative also sowohl individuelle Tatmotivation als auch Tatrechtfertigung gegenüber dem Umfeld gleichermaßen darstellen.

Sind extremistische Brückennarrative genuin irrational, oder können sie auch "wahre" Anteile enthalten?

Guten Brückennarrative greifen Querschnittsthemen wie Erziehung, Gesundheit, Migration, Umwelt und ähnliches auf, was die Gesamtgesellschaft betrifft und interessiert. Die Lösungen werden dann oft schlagwortartig verkürzt oder im Sinne der eigenen Ideologie umgedeutet. Sehr gut kann man das am Narrativ der Impfgegnerschaft darstellen. Impfen hat zweifelsohne immer Vor- und Nachteile, Angst vor Spritzen ist genauso nachvollziehbar wie Misstrauen gegenüber neuen Impfstoffvarianten. Es benötigte eine breite Informationsbasis und Wissen um statistische Wahrscheinlichkeiten, damit man hier eine fundierte, auf wissenschaftlicher Evidenz aufbauende Entscheidung trifft. Damit mutet man dem Individuum viel Verantwortung und Arbeit zu. Extremisten nutzen diese verständlichen Sorgen der Menschen und fügen neben einer sehr selektiven Informationsweitergabe dann mit der Verbreitung von Lügengeschichten wie "Impfen verursacht Autismus" noch völlig unbegründete Ängste hinzu. Wir wissen aber aus der Forschung sehr genau, dass Angst leider kein guter Ratgeber für vernünftige Entscheidungen ist, weil sie das Denken vernebelt. Das Narrativ nutzt somit berechtigte Ängste, um damit gezielt weitere, unberechtigte, Ängste zu schüren. Taucht man dann weiter in dieses Narrativ ein, dann stellt man plötzlich fest, dass Impfen "schulmedizinisch" und "jüdisch" sei, dass nur schwache Charaktere Impfen benötigen würden, dass Impfen eine Gefahr für die natürliche Ordnung sei, dass so nicht durch Krankheiten wachsen und abhärten könne, dass der Volkskörper nicht gesunde und die neue germanische Medizin, doch die viel bessere Option darstelle. Nach wenigen Klicks im Internet ist man so tief in die Welt des rechtsesoterischen Milieus eingetaucht und wird über kurz oder lang auch auf antisemitische und rassistische Inhalte stoßen, obwohl man sich anfangs doch nur um seine Gesundheit oder die Gesundheit des Kindes gesorgt hat.

Wenn ich das richtig verstanden habe, sollen Brückennarrative an Werte, Sorgen und Probleme einer wie auch immer gearteten "gesellschaftlichen Mitte" anknüpfen. Von dort aus sollen dann möglichst sanft "Brücken" in Richtung der eigenen extremistischen Ideologie gebaut werden. Wenn man nicht gerade Extremismusforscher ist oder beim Landeskriminalamt arbeitet, stelle ich mir die Identifikation solcher Narrative recht schwierig vor. Haben Sie ein paar Tipps, wie man solche Brückennarrative im Alltag erkennen kann?

Das stimmt leider und hier hilft nur Aufklärung im Vorfeld. Die Forschungslage zeigt ganz klar Prebunking wirkt besser als Debunking. Es ist also hundertmal leichter, eine Person vor Verschwörungstheorien zu bewahren, indem man ihr vorher erklärt, wie diese aussehen und wie sie funktionieren, als sie hinterher dazu zu bewegen, aus dem Kaninchenbau der vielen Verschwörungstheorien wieder herauszukommen. Wie bei der Impfung müssen wir die Menschen also vorher immunisieren gegen Verschwörungsglauben. Dazu benötigt es Medienkompetenz, aber auch politische Bildung und Aufklärung. Hier kommt auch den Medien selbst eine Aufgabe zu, einerseits über solche Narrative aufzuklären, andererseits wegen ihres Empörungspotentials nicht ständig durch Reproduktion erst selbst zu deren Verbreitung aktiv beizutragen.

Werden auch Kinder und Jugendliche durch extremistische Diskurse angesprochen – und inwiefern unterscheidet sich das von der Ansprache Erwachsener?

Verschwörungsnarrative gibt es für alle Altersklassen, Intelligenzniveaus und andere Zielgruppen. Jeder kann sich im Internet das zusammensuchen und zusammenbasteln, was er vorfindet und für ihn in seine Welt passt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom Salad-Bar-Terrorismus. Wie an der Salatbar nimmt man aus jedem Schüsselchen etwas und vermischt die einzelnen Ideologeme. Was dabei am Ende herauskommt, ist oft nicht logisch stringent und widerspruchsfrei. Es funktioniert aber in der Binnenlogik dieser einen Person und motiviert sie zur Tat. Insofern lässt sich in den letzten Jahren schon beobachten, dass die einzelnen Phänomenbereiche gerade durch die vielen Brückennarrative nicht mehr so trennscharf voneinander abzugrenzen sind wie früher.

Was kann man tun, wenn man Brückennarrative erkennt oder beginnende Radikalisierung bei sich selbst oder seinen eigenen Kindern beobachtet?

Wie schon gesagt, macht es nicht so viel Sinn jede einzelne Verschwörungsgeschichte und jedes einzelne radikale Narrativ inhaltlich durch intensives Quellenstudium zu entlarven. Das ist zeitlich nicht leistbar und niemand kann auf allen Gebieten die nötige Fachkompetenz erlangen. Gewinnbringender ist es, die üblichen Strategien von solchen Narrativen aufzudecken, wie das Freund-Feind-Denken, das Geraune vom geheimen Überläufer der Smoking Gun, das Betonen der Emotion gegenüber der Kognition, die angeblich eigene Erweckungsgeschichte und Läuterung, das selektive Rosinenpicken beim Zitieren wissenschaftlicher Studien, die unzulässigen Verallgemeinerungen, die Betonung angeblicher Unterschiede und das sogenannte Othering, die Verabsolutierung eines Heilsbringers, Sündbocktheorien usw. Wer sich eine Weile mit diesen Strategien befasst hat, der merkt schnell, dass die Inhalte austauschbar sind, die Konstruktionsmechanismen aber ähnlich. Sich selbst kann man eine Social-Media-Auszeit verhängen oder aber bewusst den Meinungskorridor offenhalten, indem man sich real auf der Sachebene auch mit kontroversen Ansichten auseinandersetzt, die nicht der eigenen Meinung entsprechen. Dies gilt aber immer nur dann, wenn beide Seiten an echtem Diskurs interessiert sind und diesen nicht nur für Populismus missbrauchen wollen. Dann empfiehlt sich ein Kommunikationsabbruch. Gegenüber den Kindern ist es wichtig, dass man im Gespräch bleibt, damit man die dort kursierende Narrative überhaupt kennt. Im Anschluss kann man in den Dialog gehen. Dabei empfiehlt es sich nicht die Meinung der Kinder mit einem erhobenen Zeigefinger und Faktenbashing vom Tisch zu wischen. Besser ist es, interessiert und detailliert nachzufragen um so auf die Inkonsistenzen im Theoriegebäude hinzuweisen und diese offen stehen zu lassen, sodass die Kinder und Jugendliche selbst auf die Jagd nach den Fehlern gehen können. Man sollte den Entdeckergeist der Kinder nutzen, um sie quasi zu Detektiven im Aufspüren solcher Narrative zu machen. Oft beherrschen die Kinder eine Bilderrückwärtssuche im Netz sowieso besser als die Eltern. Gerade wenn es um KI-generierte Inhalte geht, ist es auch vielmehr die ältere Generation, die auf diese naiv hereinfällt, während die jugendlichen Digital Natives diese Fakes sehr gut erkennen können.

Was sollte auf gesellschaftlicher oder politischer Ebene getan werden, um extremistische Diskurse zu schwächen?

Das ist eine schwierige Frage, wenn es darauf eine einfache Antwort gäbe, dann wäre dies wohl selbst eine Verschwörungstheorie. Sicher hilft Bildung und Erziehung, auch Medienkompetenz ist ein Weg, ebenso natürlich gute Politik, die die Menschen abholt, einbindet und auch solidarisch in die Pflicht nimmt, damit sie sich als Teil einer demokratischen Gemeinschaft und nicht abgehängt fühlen. Genauso braucht es aber auch Strafverfolgung und klare Stoppschilder, wo die Verfassungsgrenzen analog und digital überschritten werden.

Neben den sinnvollen Maßnahmen zur Reduktion extremistischer Diskurse, die Sie eben geschildert haben – gibt es auch Dinge, die eher vermieden werden sollten, weil sie die gesellschaftliche Wirkung von extremistischen Brückennarrativen vielleicht sogar unabsichtlich verstärken könnten?

Die wehrhafte Demokratie ist nicht verpflichtet, Extremisten im Sinne der allgemeinen Ausgewogenheit und Chancengleichheit eine Bühne zu bieten. Toleranz darf nicht für die Intoleranten gelten, da hat Karl Popper zweifelsohne die richtige Lehre aus der Diktatur des Dritten Reiches gezogen. Anstatt extremistische Diskurse aufzunehmen und zu reproduzieren sollten Politiker und Parteien lieber positive eigene Erzählungen und demokratische Narrative vorantragen. Die Parteienforschung zeigt leider recht deutlich, dass die inhaltliche Annäherung an Populisten und Extremisten diesen nicht das Wasser abgräbt, sondern zu Normalisierung ihrer Positionen und einer Diskursverschiebung in die Mitte der Gesellschaft beiträgt.

Um zum Schluss noch einen kritischen Blick auf das Konzept der Brückennarrative zu werfen: Wie gut ist dieses Konzept eigentlich beforscht und inwiefern steht es auf einem evidenzbasierten Fundament?

Das Konzept der Brückennarrative ist in den Sozialwissenschaften als Label erst relativ kurz am Markt und war dann zur Zeit der Pandemie ein dankbares Konzept, um sich die mitunter kruden Szenen innerhalb der verschiedenen Milieus bei gemeinsamen Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstrationen besser zu erklären. Es beschreibt letzten Endes mehr eine heuristische Meta-Theorie, deren einzelne Bestandteile aber ganz gut erforscht sind. Ich kann von meinem Fach aus nur für den Bereich der Sozialpsychologie bzw. politischen Psychologie sprechen. Dort befasst man sich doch schon seit einigen Jahrzehnten mit den Wirkweisen von Verschwörungsglauben und seiner Rolle bei der Radikalisierung. Vieles dazu ist sozialpsychologische Grundlagenforschung und lässt sich auch in experimentellen Studien, aber auch in der Meinungsforschung, ganz gut untersuchen. Und da kann man sagen, der Forschungsstand zu Verschwörungstheorien ist im Lauf der letzten Jahre erfreulich schnell angewachsen. Da es aber ein Querschnittsthema ist, sind solche Narrative auch für Germanisten, Ethnologen, Kulturwissenschaftler, Soziologen und Politologen interessant. Jeder Wissenschaftszweig hat seine eigenen Forschungsmethoden, um solchen gesellschaftlich komplexen Prozesse zu untersuchen und zu beschreiben. In diesen Fachgebieten kann ich von außen den Stand der wissenschaftlichen Durchdringung nicht abschließend durchblicken, denke aber, dass man auch dort das Thema jetzt immer mehr auf dem Schirm haben wird.

Sehen Sie die Gefahr, dass das Label "Brückennarrativ" selbst instrumentalisiert werden und den Diskurs verengen könnte – insofern, als legitime Kritik an bestimmten Gruppen oder Ideologien stigmatisiert würde? Beispielsweise gibt es ja auch berechtigte Kritik am Staat Israel, die nicht antisemitisch ist, oder an der Flüchtlings- und Migrationspolitik, die nicht automatisch fremdenfeindlich sein muss.

Kritik an der humanitären Katastrophe in Gaza ist vollkommen legitim und wird sicher von einem bedeutsamen Teil der Bevölkerung in Israel geteilt. Interessant wird es hier erst dann, wenn Israel als Staat dämonisiert wird, sein Existenzrecht delegitimiert wird und moralische Doppelstandards an den Tag gelegt werden. Eingeleitet werden solche Relativierungen dann gerne mit Sätzen wie "Gerade mit der Erfahrung des Holocaust, kann man doch von Israel erwarten, das …". Das konkrete Label "Brückennarrativ" selbst nehme ich bisher nur in der Fachwelt wahr und halte es noch nicht für verbrannt. Das einzelne Narrative populistisch gewendet werden und dann mitunter auch einen Bedeutungsumschwung erhalten, ist zu beobachten. Wenn heute von Woke-Kultur gesprochen wird, dann denken fast alle an lastenfahrradfahrende Mütter im Prenzlauer Berg und Latte Macchiato mit Hafermilch, weil das dem Stereotyp entspricht, was vielleicht abwertend auch mit "links-grün-versifft" assoziiert ist. Nur hat dieser Sprachgebrauch mit der ursprünglichen Verwendung, wonach "woke" eine Begrifflichkeit der afroamerikanischen Empowerment-Bewegung war, damit Afroamerikaner selbst aufmerksam (=> also awake => umgangssprachlich dann woke) sind, sich bei den Wahlen in den USA nicht durch ungerechte Zuschneidung bei den Wahlbezirken und Hürden bei den Eintragungen in die Wählerverzeichnisse sowie ungünstige Lage und Öffnungszeiten der Wahllokale von ihrem Wahlrecht abhalten lassen sollten. Kaum einer, der den Begriff hier in Europa heute benutzt, weiß um den politisch-kulturellen Hintergrund. Er wurde gezielt durch rechtsextreme Narrative entfremdet, abgewandelt und umgedeutet, um ein vermeintlich nachvollziehbares Ansinnen einer marginalisierten Wählerschicht in den USA zu einem "links-grün-versifften" Feindbild in deutschen Großstädten zu stilisieren. Dabei wurde er so populär, dass er mit der neuen Bedeutung in die Alltagssprache einging. Sprache ist also lebendig und es gibt den gegenseitigen Vorwurf der Cancel-Culture, aber mit dem Fachbegriff des Brückennarrativs selbst habe ich noch keine Bedeutungsumkehr erfahren bisher. Das erscheint mir unwahrscheinlich. Das einzelne Narrative gewendet werden sollen, ist dagegen ja gerade die Strategie, wenn man mit solchen Begrifflichkeiten und Narrativen bewusst hantiert.

Radikalisierung in Richtung Extremismus ist vielschichtig. Emotionale, biografische, soziale, situative, gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Faktoren spielen dabei eine Rolle. Welchen Stellenwert nehmen Brückennarrative im Gesamtprozess der Radikalisierung einer Person hin zum Extremismus ein?

Das haben Sie schön zusammengefasst und damit schon alles gesagt, Menschen handeln in einer bestimmten sozialen Situation immer aus einem Motivbündel heraus und niemals monokausal. Brückennarrative können als Radikalisierungsbeschleuniger dienen, sie können Katalysatoren sein, weil sie im Netz schnell und frei zugänglich sind und Feindbilder markieren, und sie können, wie im Fall von Jake Agneli, ganz konkret die Brücke vom radikalen Denken zum radikalen Handeln schlagen, wenn jemand glaubt, er müsse jetzt selbst irgendwelche "Adrenochrom"-Kinder befreien. Dies war im Übrigen auch das treibende Narrativ, das Maximilian Eder, einen ehemaligen Oberst der Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr, in die Umsturzpläne um die Patriotische Union unter der Führung von Heinrich XIII. Prinz Reuss geführt hat. Im individuellen Einzelfall können solche Narrative also eine sehr handlungsleitende Funktion übernehmen.

Ich bedanke mich für das Gespräch.